Heute sprechen wir mit Manouchehr Shamsrizi von RetroBrain, einem ehemals studentischen Projekt, das nun als Hamburger Start-up ein therapeutisch wirksames Videospiel für Menschen mit Demenz entwickelt, und dabei zu den wenigen Gründungen gehört die von der Stadt den Innovationszuschuss des “InnoRampUp”-Programms erhalten. Für das Projekt haben sich Studierende und Absolventen verschiedener Universitäten aus ganz Deutschland zu einem interdisziplänären Team zusammengetan. In Partnerschaft mit Microsoft nutzt das Team ein Gerät, dessen Technologie eine Steuerung ohne klassischen Controller ermöglicht: die Kinect for Windows v2. Diese gestenbasierte Bedienung vereinfacht besonders älteren Menschen den Umgang mit der Technik, ist also für ein Projekt wie RetroBrain prädestiniert. Nach einem Pilottest in einer Hamburger Pflegeeinrichtung für ältere Menschen, ermöglicht durch eine Förderung der Schering Stiftung, haben sich wesentliche Annahmen über das Spielverhalten der Zielgruppe bestätigt und präzisiert, sich aber auch neue Anforderungen ergeben. Diese sollen nun durch ein Spieldesign, das speziell auf eine ältere Zielgruppe zugeschnitten ist, überwunden werden. Sowohl bei der Zielgruppe, als auch dem Pflegepersonal und der Leitung des Pflegeheims stieß der Testlauf auf großes Interesse und wurde positiv aufgenommen. Therapeutisches Videospielen könnte also zu einer wertvollen Ergänzung in der Altenpflege werden. Warum erklärt uns Manouchehr von RetroBrain im Gespräch.
.
GC: Wo hat RetroBrain seinen Ursprung? Wurde die Idee an Studierende herangetragen oder haben sie sie selbst entwickelt?
Manou: Naja, so eine Idee kann eigentlich nur an der Schnittstelle vieler Beobachtungen entstehen. In diesem Fall an der Schnittsteller zweier persönlicher Frustrationen, die in kurzer Zeit aufeinander folgten: Am Anfang der Woche ärgerte ich mich, nachdem im persönlichen Freundeskreis ein Fall von Demenz in der Familie bekannt wurde, dass wir im (damaligen) Jahre 2013 so gut wie keine der Möglichkeiten nutzen, die uns die Digitalisierung schenkt. Dazu zähle ich auch die Möglichkeit, endlich die Idee des “Homo Ludens”, also das psychologisch-kulturwissenschaftliche Kontext des Menschen als spielendem Wesen, flächendeckend auch in die Pflege einzuführen, statt immer nur davon auszugehen dass ein Betroffener nur noch vor-sich-hin-degeneriert. Auf der anderen Seite habe ich mich etwa zur Mitte der Woche – da war ich gerade als Gründungsmentor auf einem StartUp Weekend in Zürich – sehr darüber geärgert, dass die neuen Mönche unserer Zeit – wie man wohl Spieleentwickler am Anfang des 21. Jahrhunderts bezeichnen kann, als eine der wenigen Milieus die digital und multimedial “Lesen und Schreiben” können – dass also viele dieser Bildungsprivilegierten viel Zeit damit verbringen, sich Gedanken über In-App-Verkäufe in schlecht programmierten und noch schlechter konzipierten Spielen zu machen, statt wirklich sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen, bei denen sie vermutlich sogar größeres unternehmerisches Potenzial abzuarbeiten hätten. Am Ende dieser Woche stand dann die Idee, beide Frustrationen wie in einem Teilchenbeschleuniger gegeneinander fliegen zu lassen, damit das eine Problem, keine technologischen Innovationen auf der Höhe der Zeit, und das zweite Problem, Skillsets die lustlos verkümmern, sich gegenseitig aufheben. Und daran arbeiten wir uns heute noch ab.
GC: Seit wann arbeitet Ihr an dem Projekt und wie hat sich die umfangreiche interdisziplinäre Kooperation ergeben?
Manou: Diese Woche lässt sich etwa auf Mitte 2013 schätzen. Anschließend haben mein Co-Founder Amadeus und ich uns primär über eine Frage Gedanken gemacht: Welche Expertise und welche Erfahrungen brauchen wir, um so ein dickes Brett zu bohren? Schnell war klar, es muss uns als Team gelingen, die disziplinären Grenzen von Medizin, Informatik und Design zu durchbrechen – schließlich ist es dem Betroffenen, seinen Angehörigen und jedem Pflegeheim gänzlich egal, aus welcher Fachrichtung eine gute Idee kam, und funktionieren kann es nur auf diese disziplinübergreifende Weise. Wir haben uns dann umgeschaut und uns die notwendige Zeit gelassen, um ein Team zusammenzustellen, das uns als Mitgründer auf dieser ungewöhnlichen Reise begleiten möchte. Bei der Komplexität und unserem Anspruch verwundert es sicherlich nicht, dass wir ein großes Team geworden sind. Und auch nicht, dass es für keinen Beteiligten die erste Gründungserfahrung ist.
GC: Um welche Art von Spiel handelt es sich bei RetroBrain? Was sind die Herausforderungen im Spiel und wie ergibt sich hieraus der therapeutische Nutzen?
Manou: Wir haben verschiedene Konzepte in der Schublade. Eines davon ist z.B. ein Autorennen, währenddessen der Spieler vor verschiedene Herausforderungen gestellt wird, wie z.B. die richtige Abzweigung zu wählen um an ein zuvor definiertes Ziel zu gelangen, oder bei Warnhinweisen richtig zu reagieren, womit Reaktionsvermögen und Arbeitsgedächtnis trainiert werden. Das ganze Spielsetting wird dabei im Stil der 60er Jahren designed, um Erinnerungen an die Jugendzeit zur Aktivierung zu nutzen. Ein weiteres Konzept beinhaltet einen musiktherapeutischen Schwerpunkt, bei dem der Spieler z.B. bestimmte Tonfolgen erinnern muss, um im weiteren Spielgeschehen Erfolg zu haben. Außerdem integrieren wir physiotherapeutische Übungen, die die Stand- und Gangsicherheit des Spielers verbessern, was unter medizinischen Aspekten von großer Bedeutung ist. Aufgrund unserer besonderen Zielgruppe ist es für uns jedoch von zentraler Bedeutung, flexibel bei der Konzeptionierung zu bleiben. Deshalb stützen wir uns nicht nur auf die aktuelle Studienlage, sondern testen unsere Prototypen in kurzen Intervallen mit der Zielgruppe. Mit dieser Vorgehensweise stellen wir sicher, dass unser späteres Produkt wirklich auf unsere Spieler zugeschnitten ist und nicht nur uns im Studio oder in der Theorie begeistert.
GC: Einfache Bedienung und der soziale Aspekt stehen bei RetroBrain im Vordergrund – aber wie genau definiert sich der soziale Aspekt des Spiels hier?
Manou: Habt ihr schon einmal eine Gruppe von Senioren gemeinsam mit der Nintendo Wii bowlen gesehen? Die haben großen Spaß, interagieren miteinander und tun damit sich selbst, ihren Angehörigen und ihren Ärzten etwas Gutes. Unsere gestenbasierte Steuerung ermöglicht nun auch in Abwesenheit von betreuenden Personen Spielspaß und soziale Inklusion für die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, und frischt ihr Tagesprogramm wieder auf. Die Lebensqualität aller Bewohner kann ebenso im Zusammenspiel mit der Familie wieder gesteigert werden. Nebenbei kann der Krankheitsverlauf Demenzkranker verlangsamt werden; geistig gesunde Senioren können hingegen mit RetroBrain kognitive Prävention betreiben. Beide Gruppen profitieren von physiotherapeutischen Übungen zur Reduktion der Sturzgefahr und Verlängerung von Gehstrecken.
Im zweiten Teil des Interviews erzählt Manou uns nächste Woche unter anderem welche speziellen Herausforderungen ein Spiel wie Retrobrain an die Entwicklung stellt und schildert uns Erlebnisse aus der Testphase in einer Pflegeeinrichtung für ältere Menschen.
Aktuell sucht RetroBrain Unterstützung und daher enden wir heute mit dieser Frage:
GC: Aktuell sucht RetroBrain einen Unity 3D Game Developer zur Unterstützung – welches sind die wichtigsten Fähigkeiten und Voraussetzungen, die der Kandidat mitbringen sollte?
Manou:Wir suchen ständig, weil unser Team wächst! Wer also Lust hat, mit seinem Skillset – besonders 3D-Spiele mit der Microsoft Kinect for Windows v2 umzusetzen – nicht nur Geld zu verdienen, sondern dabei auch etwas gesellschaftlich Ssinnvolles zu tun und dabei in einem kleinen, international vernetzten, Team zu arbeiten, der soll sich jederzeit bei uns melden.
Hört sich das nach dir an? Dann los:
Hier geht’s zur Stellenanzeige!
Pingback: Retrobrain - Spiel gegen das Vergessen | Games-Career Blog
Pingback: Health Games – Spielen als Therapie Teil II | Games-Career Blog